FSKB Info 2022

Wir riskieren einen Kiesnotstand in der Schweiz

Kiesabbaugebiete erschliessen ist ein finanzieller und zeitlicher Kraftakt mit vielen Unsicherheiten und Risiken. FSKB-Vizepräsident Ulrich Widmer erklärt im Interview die Herausforderungen und die aktuelle Situation in der Kiesversorgung. Er fordert von Politik und Behörden, ihre Verantwortung für die mineralische Rohstoffversorgung aktiver wahrzunehmen, und zieht Parallelen zur Energiedebatte.

Herr Widmer, wir erleben zurzeit verschiedene geopolitische Krisen, welche die Schweiz vor Herausforderungen stellen. Was würde eigentlich passieren, wenn unsere Kiesversorgung ausfällt?

Das ist definitiv ein unterschätztes Risiko, das vielen nicht bewusst ist. Unsere Baustellen würden schnell einmal stillstehen. Die wirtschaftlichen Aktivitäten kämen zum Erliegen. Unsere Gesellschaft ist auf Kies, Beton und Asphalt angewiesen. Fast eine halbe Million Menschen arbeitet in unserer Bauindustrie, welche fast 10 Prozent des Schweizer Bruttoinlandprodukts (BIP) erwirtschaftet.

Was wären die Alternativen bei einem Versorgungsengpass?

Importkies ist eine Möglichkeit. Um die ausländische Abhängigkeit zu reduzieren, ist dies jedoch ein völlig falscher Ansatz. Zudem ist es ein ökologischer Irrsinn, der leider trotzdem schon heute Realität ist: der Transport von schwergewichtigen Massenprodukten mit Lastwagen über Tausende von Kilometern mit den bekannten Konsequenzen für unsere Umwelt. In Grenzregionen generell, speziell im Rheintal oder im Tessin, erfolgt die Kiesversorgung bereits heute zu grossen Teilen aus den Nachbarländern. Vermehrt auf Import zu setzen, geht mit einer übermässigen Belastung der Verkehrsinfrastrukturen und massiv mehr CO2-Ausstoss einher. Umso unverständlicher ist es, dass wir nicht mehr lokale Abbaugebiete erschliessen können und unsere Kiesversorgung selbstständiger gestalten. Stattdessen debattieren wir über Kleinigkeiten.

Welche Kleinigkeiten meinen Sie?

Als Kiesunternehmen haben wir den Leistungsauftrag, die Versorgung der Schweiz mit mineralischen Rohstoffen sicherzustellen. Wir investieren enorme Summen für die jahrzehntelange Planungs- und Bewilligungsphase, müssen immer mehr Nachweise erbringen und ganze Stäbe an Fachplanern engagieren. Mir ist bewusst, dass wir das der Gesellschaft auch schulden. Aber die Problematik ist, dass wir keine Planungssicherheit haben, weil zum Schluss oftmals Abstimmungen oder Gerichtsentscheide anstehen, mit denen auch gute Projekte in letzter Sekunde gestoppt werden. Diese Unsicherheiten und finanziellen Risiken belasten uns als Unternehmen. Viel bedenklicher ist aber, dass wir so immer weniger Abbaugebiete erschliessen können und einen Kiesnotstand in der Schweiz in Kauf nehmen.

Quelle: KIBAG Holding AG

«Vermehrt auf Import zu setzen, geht mit einer übermässigen Belastung der Verkehrsinfrastrukturen und massiv mehr CO2-Ausstoss einher.»

Kiesnotstand? Ist das nicht etwas überspitzt?

Die Schweizer Bevölkerung braucht pro Jahr zirka 30 Millionen Kubikmeter Kies. Das ist etwa eine Lastwagenladung pro Einwohnerin oder Einwohner. 25 Millionen Kubikmeter Kies werden in lokalen Kiesgruben gewonnen. Auch haben wir es geschafft, dass 80 Prozent der Rückbaumaterialien mittlerweile wiederverwertet werden, was in etwa 20 Prozent des gesamten Materialbedarfs abdeckt. Zurzeit können wir der Nachfrage in der Schweiz also noch weitgehend nachkommen – in Zukunft wird dies aber kaum mehr möglich sein, da die Produkte unserer Branche zwar sehr nachgefragt werden, aber niemand unsere Anlagen in seiner Nachbarschaft will. Bewilligungen für ein neues Abbaugebiet auf der grünen Wiese sind deswegen bei uns zur Seltenheit verkommen. Wir dürfen uns daher nicht der populistischen Polit- und Ökoillusion hingeben, die Schweiz könne auf Primärmaterial und damit auf Kiesgruben verzichten. Sonst laufen wir in die gleiche Politikerfalle wie beim Strom, wo wir auch keine eigene Versorgung ohne Import mehr sicherstellen können. Wir brauchen wieder mehr Kiesabbaustellen. Die Kiesvorräte  wären vorhanden. Die Knappheit ist lösbaren Zielkonflikten geschuldet, welche insbesondere dort anfallen, wo es wirtschaftlich und ökologisch am meisten Sinn machen würde, abzubauen – nahe bei den Agglomerationen.

Welche Ziele werden dort höher oder zu hoch gewichtet?

Einzelinteressen, die hinsichtlich des Gesamtwohls einen minimalen Stellenwert einnehmen. Materialgewinnung hingegen wird von den Behörden vernachlässigt. Es ist vergleichbar mit der aktuellen Stromproblematik, niemand will Verantwortung übernehmen. Behörden und auch Gerichte schieben sich die Verfahren jahrelang hin und her. Dies ist ein unhaltbarer Zustand, der von den politischen Führungsgremien ignoriert wird. Man lässt die auf ihr Gebiet fokussierten Fachverantwortlichen in den Ämtern und Gerichtsinstanzen einfach werkeln.

«Materialgewinnung wird von den Behörden vernachlässigt.»

Wo müsste angesetzt werden?

Die Unternehmer machen heute alles, richten sich nach Nutzungs- und Schutzinteressen. Wir benötigen behördliches Rückgrat und schnellere Entscheide auf Amts- und Gerichtsebene. Hier muss die Politik viel mehr Druck aufsetzen. In der Raumplanung muss der Kiesversorgungssicherheit mehr Gewicht verliehen werden, wie in der Stromversorgung, wo wir die gleiche Debatte führen. Ich fordere die Politiker und Amtsleiter auf, ihre Führungsverantwortung wahrzunehmen. Sie sollen dem Materialabbau mehr Priorität verleihen und so zu einer nachhaltigen mineralischen Rohstoffversorgung beitragen.

Quelle: KIBAG Holding AG

Ulrich Widmer (Jahrgang 1961) ist FSKB-Vizepräsident und CEO der Kibag, eines der führenden Schweizer Unternehmen im Baustoff- und Baubereich mit 2000 Mitarbeitenden. Als ehemaliger Regierungsrat und Baudirektor des Kantons AR sowie Direktor des Bundesamts für Raumplanung weist er insgesamt eine 30-jährige Erfahrung bezüglich Herausforderungen im Kiesabbau aus – sowohl aus Unternehmer-, Planer- als auch aus Behördensicht.